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© Ruth Walz
Jossi Wieler & Sergio Morabito bei den Proben zu »Lohengrin«, Salzburger Osterfestspiele 2022
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Szenenbild »Lohengrin«, Salzburger Osterfestspiele 2022
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Szenenbild »Lohengrin«, Salzburger Osterfestspiele 2022

Lohengrin

»Es war einmal ein König, der starb und hinterließ zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter. Die Tochter war aber ein Jahr älter als der Sohn…«

Mit Lohengrin schuf Richard Wagner nach dem Fliegenden Holländer und Tannhäuser die letzte seiner drei großen romantischen Opern. Im erzwungenen, resignativen Rückzug des Helden am Ende dieses Werkes nahm der Autor sein eigenes Exil vorweg: Die Teilnahme an den Dresdner Maiaufständen 1849 kostet ihn seine Königlich Sächsische Hofkapellmeister-Stelle und macht ihn zum politischen Flüchtling. In Zürich vor Strafverfolgung sicher, begibt Wagner sich in eine lange Latenzphase kunstphilosophischer Spekulation, während derer die Konzeption der Nibelungen-Tetralogie in ihm reift; mit ihr verabschiedet er sich bewusst vom Operntheater seiner Gegenwart. Die Uraufführung seiner liegen gebliebenen »letzten Oper«, aus der er noch in Dresden 1848 konzertant Fragmente präsentiert hatte, wird von dem befreundeten Franz Liszt 1850 in Weimar ermöglicht und kuratiert – in Abwesenheit des steckbrieflich gesuchten Autors. Während die Uraufführung eher auf Ratlosigkeit und Kritik denn auf Verständnis stößt, wird im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts gerade diese Oper mit ihrer Melodienfülle und Martialik zum entscheidenden Motor der Durchsetzung des Komponisten auch in breiteren Publikumsschichten.

Wagners Lohengrin, Gipfel der künstlerischen Romantik, gestattet zugleich einen Ausblick in den Abgrund politischer Romantik: Der Narzissmus einer ganzen Nation spiegelte sich im Idealbild des rätselhaften Schwanenritters, der einer bedrängten Jungfrau zu Hilfe eilt und die Einigkeit und Wehrhaftigkeit des Reiches gegen innere und äußere Feinde zu stärken weiß; dessen Mission scheitert, weil die gerettete Jungfrau dem Anspruch seiner Liebe, die fraglose Hingabe fordert, nicht gewachsen ist und erfasst wird vom Zweifel an seiner Reinheit und Unhinterfragbarkeit; der sich – unverstanden – aus der Menschenwelt in die Höhenluft seiner tragischen Einsamkeit zurückzieht. Wagner hat hier eine Projektionsfläche geschaffen, in der sich Herrscher- und Führergestalten von Ludwig II. bis Adolf Hitler wiederzuerkennen glaubten und deren Aura zugleich die Rollenbilder der patriarchalen bürgerlichen Ehe mythisch zu verklären strebt.

Kein zweites Werk Wagners hat ebenso viel gläubige Hingabe erfahren wie kritischen Spott ertragen müssen wie der Lohengrin. Eines ist klar: Angesichts der Aporien dieses Werks ist das Theater aufs Äußerste gefordert, eine ebene insistente wie sensibel-immanente Dekonstruktion seiner Rollenbilder und Konfliktstrukturen zu entfalten. Einzig die im Stück selbst tabuisierte und dämonisierte, in Gestalt der heidnischen Hexe Ortrud personifizierte Kultur des Zweifels ist es, die der epochemachenden und zugleich zutiefst fragwürdigen Kunst Richard Wagners heute angemessen ist.
Das »Amplifizieren, Realisieren und Genaumachen des mythisch Entfernten« – durchaus im Sinne des hier zitierten Thomas Mann –
sind Gestaltungsstrategien, an denen sich die Theaterkunst von Wieler, Morabito und Viebrock misst: Psychologie und moderne Erzählkunst verbinden sich mit Legende und Mythos, in einer Haltung, die Liebe zur Tradition und Zweifel an ihr vereint. Sie haben sich hinabbegeben in das Märchen- und Mythenmyzel, an das Wagners eklektizistischer Lohengrin-Mythos anknüpft. Dabei sind sie auf ein Märchen gestoßen, das so beginnt:

»Es war einmal ein König, der starb und hinterließ zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter. Die Tochter war aber ein Jahr älter als der Sohn. Und eines Tages stritten die beiden Königskinder mit­einander, welches von ihnen beiden König werden sollte, denn der Bruder sagte: ›Ich bin ein Prinz, und wenn Prinzen da sind, kommen Prinzessinnen nicht zur Regierung.‹ Die Tochter aber sprach dagegen: ›Ich bin die Erstgeborene und Älteste, mir gebührt der Vorrang.‹«

Diese Erzählung hat die Folkloreforschung in unzähligen Varianten nachweisen können. Meist führt die Rivalität zum Mord des Bruders an seiner Schwester; in einigen Fällen aber ist es umgekehrt die ältere Schwester, die mit dem Mord am jüngeren Bruder gegen die patriarchale Geschlechterfolge rebelliert. Genau dieser verschwiegene und verdrängte Konflikt löst das Geschehen der Oper aus: Elsa ist die erstgeborene Tochter des Herzogs von Brabant, aber als Frau von der Erbfolge zugunsten ihres jüngeren Bruders Gottfried ausgeschlossen. Zudem soll sie aus Gründen patriarchalen Machterhalts mit ihrem Vormund Telramund zwangsverheiratet werden. Genügend gute oder schlechte Gründe also, sich aus der ihr zugewiesenen demütigenden Geschlechterrolle durch einen Gewaltakt zu befreien. Dass es eine zutiefst, ambivalente, zwischen Liebe und Hass oszillierende Geschwisterliebe ist, die Wagners Lohengrin-Erzählung generiert, hat die erste psychoanalytische Lektüre durch den Freud-Schüler Otto Rank bereits 1911 herauskristallisiert.

Vergessen wir nicht: In den ersten Szenen der Oper bemüht man sich um Klärung des spurlosen Verschwindens des Thronfolgers Gottfrieds; gegen die mutmaßliche Brudermörderin wird ein Strafverfahren eröffnet. Am Ende des Tages ist der Verschwundene vergessen, wird nicht mehr nach ihm gefragt. Seine Leerstelle wird überblendet durch das Erscheinen eines Heilsbringers, der alle und alles überstrahlt: Lohengrin. Diese Vergesslichkeit mag bei allen Figuren erklärbar sein –
nur bei Elsa nicht. Wer, wenn nicht sie – als die engste Angehörige des vermissten Kindes – müsste weiterfragen, weiterforschen, gerade jetzt, nachdem ihre Unschuld gottesgerichtlich bewiesen ist? Es gibt nur eine Antwort: Es ist in ihrem Interesse, dass es verschwunden bleibt und vergessen wird. Denn sie ist die Nutznießerin seines Verschwindens.

Das berühmte Verbot »Nie sollst du mich befragen…« stellt auch eine raffinierte Finte dar: Mit großem Trara wird ein Rätsel in den Raum gestellt, damit wir uns an ihm die Zähne ausbeißen und vergessen, die andere, viel naheliegendere Frage zu stellen: nämlich die nach dem Verbleib des Thronfolgers. Die von Elsa kreierte und in die Wirklichkeit projizierte Phantasie- und Ersatzgestalt enthält und symbolisiert zugleich den verdrängten Bruder, denn Lohengrin ist das Simulakrum Gottfrieds. Als Simulakrum bezeichnet man ein wirkliches oder vorgestelltes Ding, das mit etwas oder jemand anderem verwandt ist oder ihm ähnlich ist: Lohengrin ist Gottfrieds Bild, Abbild, Spiegelbild, Traumbild, Götzenbild und Trugbild. Nicht von ungefähr muss der eine verschwinden, bevor der andere erscheinen kann – und umgekehrt. Und nicht von ungefähr spiegelt die »glänzende Silberrüstung« des Schwanenritters das »glänzende Silbergewand«, in welchem Gottfried am Ende der Oper im doppelten Wortsinn wieder auftaucht. Doch anders als mit dem Bruder ist mit Lohengrin eine Ehe und in ihr eine Gewaltenteilung möglich und erlaubt – so erhofft es sich zumindest Elsa.